11. Oktober 1999
D E U T S C H L A N D
N S - V E R B R E C H E N"Wie im Film"
Ein alter Professor und ein amerikanischer Nazi-Jäger sorgten dafür, dass
ein ehemaliger Waffen-SS-Mann festgenommen werden konnte.Das Verfahren hat Spuren hinterlassen in der Justizgeschichte etlicher
Länder: in Österreich, der DDR und der CSSR, in Kanada und in der
Bundesrepublik. Es wurde eingestellt, wieder aufgenommen, abgegeben, wieder
eingestellt. Mal ermittelten Staatsanwälte in Aachen und mal in Köln, mal in
Stuttgart, mal in Dortmund. Aber die Grausamkeiten, die nahe des
Polizeigefängnisses "Kleine Festung Theresienstadt" unmittelbar vor Ende des
Krieges begangen wurden, konnten nie gesühnt werden.
Am Mittwoch vergangener Woche aber, 54 Jahre nach dem Massaker und 35 Jahre
nach Beginn der Ermittlungen, griff die Staatsmacht dann zu. Der
pensionierte Redakteur Julius Viel, 81, wurde wegen Mordverdachts verhaftet,
inmitten seiner wöchentlichen Kegelrunde daheim zu Wangen im Allgäu ein
später Erfolg eines alten Professors aus Kanada und eines Nazi-Jägers aus
den USA.
Adalbert Lalleir, Professor für Wirtschaftswissenschaften im kanadischen
Montreal, war als Banatdeutscher mit 17 Jahren "zur SS gezwungen worden",
wie er sagt; er diente in der Truppe von Viel, damals Untersturmführer der
Waffen-SS.
Vor zwei Jahren hatte sich Lalleir, 74, dem New Yorker Privatdetektiv und
Nazi-Jäger Steven Rambam,, offenbart und seinen früheren Vorgesetzten
schwer belastet: Viel habe "willkürlich" Gefangene getötet "mindestens
fünf, wahrscheinlich sieben".
Der Tatort soll nahe Theresienstadt im so genannten Protektorat Böhmen und
Mähren gelegen haben hier stand das berüchtigte Polizeigefängnis "Kleine
Festung". In der Umgebung waren im Frühjahr 1945 Soldaten einer
Nachrichtenschule der Waffen-SS stationiert. Von Osten her nahte die Rote
Armee, von Westen die US-Armee.
In einer Talsenke beim Ort Leitmeritz mussten jüdische Häftlinge und
Kriegsgefangene Panzergräben ausheben. Tag für Tag wurden vom 16. März 1945
an, bewacht von Festungspersonal, Kapos und Waffen-SS-Leuten, bis zu 1700
Mann eingesetzt.
Weil der Grundwasserspiegel sehr hoch lag, arbeiteten die Häftlinge im
tiefen Wasser. Sie gruben mit bloßen Händen. Wenn sie schon fast kraftlos
waren, mussten sie mehrfach über die Gräben springen manche fielen vor
Erschöpfung ins Wasser und ertranken.
Anderen Gefangenen rissen Bewacher die Mützen vom Kopf und warfen sie weg.
Wer sie sich zurückholte, wurde getötet "auf der Flucht erschossen", wie
das damals hieß.
Ein Häftling kniete nieder und betete. Auf Weisung musste ein Dolmetscher
übersetzen: "Er bittet Gott, ihn zu sich zu nehmen." Ein SS-Mann, in
Theresienstadt nur "Schwarzer Hans" genannt, spaltete dem Betenden mit einem
Spaten den Schädel.
Wie viele Gefangene bis Ende April 1945 ermordet wurden, ist nicht genau
bekannt. Wahrscheinlich waren es mehr als 750. Später stellten Ermittler
nüchtern fest, dass die Wächter nicht nur aus "Rassenhass getötet" hatten
sondern auch "wahllos aus Langeweile".
In der zweiten Aprilwoche 1945 hätten, sagte Lalleir, Untersturmführer Viel
und er am Einsatz teilgenommen. Er habe schon früh ausgesagt, dass sein
Vorgesetzter dort gemordet habe erst während britischer Gefangenschaft,
dann gegenüber einem Mitarbeiter des US-Militärgeheimdienstes CIC.
Interessiert habe das aber niemanden.
1951 wanderte Lalleir nach Kanada aus, sechs Jahre später wurde er dort
eingebürgert. 1960 habilitierte er an der Concordia University; Lalleir
wurde ein angesehener, mehrfach ausgezeichneter Hochschullehrer.
Im tschechischen Leitmeritz hatte Ende der vierziger Jahre das dortige
Volksgericht die Vorgänge weitgehend aufgeklärt und mehrere SS-Männer in
Abwesenheit zum Tode verurteilt. Die Staatsanwaltschaft im österreichischen
Graz ermittelte später auch. Als schließlich Dortmunder Ermittler den Fall
in die Hand bekamen, filterten sie die Namen von über 530 Beschuldigten
heraus 168 nur konnten ausfindig gemacht werden.
Einer von ihnen hieß Viel. Er wurde schon 1964 in Stuttgart vernommen, hatte
aber das Glück, dass ein Belastungszeuge vor der entscheidenden Aussage
starb.
Julius Viel war damals Redakteur bei einer Zeitung in Stuttgart. Nach seiner
Pensionierung 1983 wurde er vom Staat geehrt: Ein enger Mitarbeiter des
badenwürttembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth (CDU) überreichte
dem ehemaligen Waffen-SS-Mann das Bundesverdienstkreuz.
Im Herbst 1997 hörte im fernen Kanada der Wirtschaftswissenschaftler Lalleir
von der Arbeit des Nazi-Jägers Rambam, der dort bereits mehr als 160
NS-Verbrecher aufgespürt hatte. Rambam befragte Lalleir und der Professor
wurde zum ersten brauchbaren Zeugen für Gräueltaten in der Leitmeritzer
Talsenke.
Zweimal wurde Lalleir in Stuttgart vernommen, mit einem Fernsehteam der
Mainzer "Report"-Redaktion (Sendetermin: diesen Montag, 21 Uhr) kehrte er an
den Ort der Massaker zurück. "Dabei haben sie uns in der Kriegsschule immer
gesagt", erzählte er in zitterndem Deutsch, "die Waffen-SS schießt keinen
nieder, der unbewaffnet ist." Und er beklagte "die Ignoranz der Alliierten"
damals deretwegen Viel seinen Ruhestand in Wangen, einem hübschen Städtchen
am Alpenrand, habe genießen können.
Am vorvergangenen Wochenende stellten Rambam und die "Report"-Leute dort den
ehemaligen Waffen-SS-Mann. Wie im schlechten Film beschüttete Viels Frau das
Team mit Wasser, um es zu verjagen. Rambam sprach Viel auf die Vergangenheit
an, der gedrungene, weißhaarige Mann war sichtlich geschockt. Nein, er sei
nicht der, den sie suchten, wehrte er ab: "Es muss sich um eine Verwechslung
handeln." Daran glaubt der Stuttgarter Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm
freilich keine Sekunde.